
Heidelberg. Mit seinem Besuch bei der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg unterstrich Landtagsvizepräsident Daniel Born die Bedeutung der Arbeit dieser weltweit einzigartigen Forschungseinrichtung und die Notwendigkeit, gegen Antiziganismus vorzugehen und die Demokratie zu stärken. Die Forschungsstelle, die am Historischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität angebunden ist, existiert seit sieben Jahren. Die wissenschaftliche Leitung hat die Professorin für Osteuropäische Geschichte Prof. Dr. Tanja Penter inne. Die Forschungsstelle widmet sich als einzige akademische Institution dem Thema Antiziganismus, einer spezifischen Form von Rassismus, die sich vor allem gegen Sinti und Roma richtet. Sinti und Roma sind die größte marginalisierte Minderheitengruppe in Europa. Der Begriff beschreibt Vorurteile, Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt, die historisch bis hin zum nationalsozialistischen Völkermord und gegenwärtig gegen diese Gruppen gerichtet sind.
Die Einrichtung der Forschungsstelle war ein wesentliches Ergebnis des ersten Staatsvertrags, den der baden-württembergische Landesverband Deutscher Sinti und Roma 2013 mit dem Land Baden-Württemberg geschlossen hat. Zu den Tätigkeitsfeldern des Forschungsteams um Dr. Frank Reuter, den wissenschaftlichen Geschäftsführer, gehören Grundlagenforschung, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der enge Austausch mit den Selbstorganisationen der Sinti und Roma. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Wissenschaftstransfer in die Gesellschaft hinein. Reuter war Mitglied der vom Bundesinnenministerium eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die im Mai 2021 ihren Abschlussbericht zu den strukturellen Ursachen von Antiziganismus vorlegte. Er betonte: „Für Antiziganismus gibt es keine Problemwahrnehmung bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein.“
Dr. Radmila Mladenova, wissenschaftliche Mitarbeiterin erforscht die Rolle der Medien für die Entstehung und Verbreitung antiziganistischer Stereotype. Bislang wurde Antiziganismus im Film kaum kritisch untersucht. Die Forscherin hinterfragt den klischeebehafteten Blick auf Sinti und Roma und geht der Frage nach, ob das Medium Film nicht auch einen Beitrag dazu leisten kann, Vorurteile zu überwinden. „Antiziganismus - auch subtiler - im Film ist hochwirksam: Bilder werden wieder und wieder reproduziert. Durch die Wiederholung haben sie einen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft.“ Stereotype Denkmuster über Sinti und Roma förderten Gleichgültigkeit bis Feindseligkeit: „Antiziganismus wirkt wie ein Empathieverbot. Indem der Eindruck erweckt wird, dass Sinti und Roma alle gleich und gleichzeitig fundamental unterschiedlich zur Mehrheitsgesellschaft seien, werden sie durch ein Raster von Vorurteilen als ‚die Anderen‘ wahrgenommen. Das Wichtigste ist, diese imaginäre Trennlinie zu überwinden,“ erläuterte Mladenova.
Kunstfreiheit sei ein hohes Gut, das nicht in Frage gestellt werde. Ziel sei es vielmehr, Sensibilität zu schaffen und dafür das künstlerische Potential zu nutzen. „Niemand will, dass die Oper ‚Carmen‘ nicht mehr aufgeführt wird. Es kommt auf eine sensible und kluge Inszenierung an, die Räume für einen kritischen Umgang mit tradierten Zuschreibungen öffnet,“ so Reuter. Auch in Computerspielen werde oft unreflektiert mit Karikaturen von Minderheiten gearbeitet. Reuter wies darauf hin, dass Filme wie Computerspiele zentrale Elemente der Popkultur sind und dass Stereotype in diesen Medien eine enorme Reichweite haben. Bildungspolitiker Born, der durch sein Ehrenamt als Vorsitzender des Hauptausschusses bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) der Filmindustrie seit einem Vierteljahrhundert eng verbunden ist, betonte auch in diesem Zusammenhang die Relevanz der Arbeit der Forschungsstelle. Er zog Parallelen zwischen den Entwicklungen, die die Einschätzung von Filmen und die Nachkriegsdemokratie genommen haben: „Beides sind lernende Systeme mit einer Entwicklungsgeschichte, in der Schritt für Schritt blinde Flecken bearbeitet wurden, wo man lange weggeschaut hat. Das Mehr an Sensibilität und Schutz für Minderheiten ist ein großer Gewinn für alle.“
Daniela Gress, ebenfalls als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team, steht kurz vor dem Abschluss ihrer Dissertation zu Bürger- und Menschenrechtsbewegungen der Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland. Sie zeigte sich überzeugt, dass ohne die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma das Thema Antiziganismus nicht an der Universität angekommen wäre. Jahrzehntelang stritten Angehörige der Minderheit um eine Anerkennung des NS-Völkermordes und die gesellschaftliche wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Antiziganismus. „Die Perspektive der Betroffenen ist eine essenzielle Basis für unsere Forschung. Antiziganismus lässt sich nur durch die gemeinsame Verteidigung unserer demokratischen Werte überwinden.“
Angriffe auf die Demokratie beschäftigen sowohl den Landtagsvizepräsidenten als auch das Forschungsteam. Born vertrat dazu eine klare Position: „Schweigen ist keine Option. Die Spalter reden den ganzen Tag. Wir müssen über das sprechen, was wünschenswert ist und wofür wir uns einsetzen: eine gerechte, inklusive, lebendige Zivilgesellschaft, eine starke Demokratie.“ Auch Reuter unterstrich die Notwendigkeit, über die soziale Wirklichkeit zu reden und alltägliche Diskriminierungserfahrungen von Sinti und Roma und anderen Minderheiten wahrzunehmen, statt sich auf symbolische Scheindebatten zu fokussieren. „Unsere Intention ist es nicht im wissenschaftlichen Elfenbeinturm zu sitzen. Wir möchten durch unsere Forschungsarbeit einen gesellschaftlichen Beitrag für einen kritischen, reflektierten Blick auf das Bild von Sinti und Roma leisten. Wir wollen das Bild erweitern und korrigieren, das über Jahrhunderte nicht in Frage gestellt wurde und bis heute Lebenschancen von Menschen beeinträchtigt“, so der wissenschaftliche Geschäftsführer.
Borns Fazit: „Die Arbeit der Forschungsstelle in Heidelberg, die eine solche internationale Strahlkraft hat, leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung und gesellschaftlichen Aufklärung über Antiziganismus und stärkt damit die Grundlagen unserer Demokratie.“